Es sind die Dios de los muertes, die Tage der Toten Wir stehen an den Gräbern. Doch nicht in Mexiko, sondern mitten in unseren Learning-Management-Systemen. Zwischen Klickpfaden, Zertifikaten und Abschlussbuttons – dort, wo die bunten eLearnings liegen, die einmal mit besten Absichten gebaut wurden. Willkommen am Friedhof unserer digitalen Lernmodule.
Wir haben sie mal alle gekannt. Und so viel Hoffnung in sie gesteckt. Jetzt liegen sie da. Die Microlearnings mit stockfoto-lächelnden Menschen. Die zehnminütigen Pflichtmodule mit Quiz am Ende. Die KI-generierten Kurse, die nie jemand wirklich gesehen – geschweige denn verstanden – hat.
Sie alle liegen hier. Und wir gehen weiter, zufrieden. Schließlich haben wir „Content geliefert“, didaktisch wertvoll, versteht sich.
Der Sendewahn
Egal, ob in Präsenz oder virtuell – lange Zeit haben wir uns im Corporate Learning vor allem als Content-Produzenten verstanden. Und viele Trainingsanbieter haben dieses Selbstverständnis noch befeuert. Ein neues Thema? Schnell ein Training oder – weil alltagsverträglicher – ein eLearning. Ein Compliance-Update? Klick, Klick, Haken dran.
Und dank KI geht das heute noch viel flotter, was für ein Segen – PDFs rein, Content raus, fertig. Mit leuchtenden Augen sind wir ganz blind für die Wirkungsarmut all dessen. Denn wir verwechseln Lernen mit Lehren, das bemühte Bereitstellen von Wissen mit dem natürlichen Prozess des Lernens. Und wir nehmen an: wenn sie klicken, werden sie wissen, und werden es daher auch (anders) tun.
Die Realität sieht freilich anders aus. Wir senden – aber kaum jemand empfängt. Wir produzieren – aber kaum jemand verarbeitet. Wir erzeugen Datenpunkte – aber keine Entwicklung.
Ein eLearning ins LMS zu hängen, führt nicht automatisch zu Lernen. So wie ein Fitnessgerät im Keller kein Training ersetzt. Das wissen wir natürlich längst, und dennoch tun wir (noch?) nicht anders.
Der fehlende Rahmen
Echtes Lernen passiert nicht im Modul, sondern im Kontext. Erst wenn Relevanz, Resonanz und Reflexion zusammentreffen, wird Wissen lebendig und erwacht die Lust aufs Lernen:
- Relevanz: Warum soll ich mich damit beschäftigen? Wofür?
- Resonanz: Wer interessiert sich dafür, ob ich es tue?
- Reflexion: Was bedeutet das für meine Arbeit, mein Team, meine Entscheidungen? Was müsste ich dazu anders machen?
Alle drei Ingredienzien für echtes Lernen entstehen aber nicht in eLearnings, sondern durch das Rundherum – die Menschen, die Führung, der Dialog. Und wenn wir Lerninhalte ohne diesen Rahmen ausliefern, so pflanzen wir Samen – ohne Erde, Wasser, Licht. Da wolten wir uns nicht wundern, dass kaum etwas wächst.
Vom Content zur Inszenierung
KI wird uns das Produzieren erleichtern, oder tut dies schon, keine Frage. KI ist aber nicht die einzige Intelligenz, die wir für smarte Lernsettings nutzen sollen. Nutzen wir z.B. auch emotionale, soziale und kollektive Intelligenzen, schaffen wir jenen Rahmen, in denen KI-produzierte Angebote auch tatsächlich wirksam werden können.
Denn unsere eigentliche Aufgabe als Corporate Learning Profis liegt nicht (mehr9 primär im Erstellen von Content, sondern im Inszenieren von Lernmöglichkeiten.
Das heißt: Aufgaben, die an echte Arbeitsprobleme andocken – „desirable difficulties“ statt Multiple Choice. Und auch: Führungskräfte, die Lernprozesse begleiten, nicht nur freigeben sowie Teams, die gemeinsam lernen, statt isoliert klicken. Das heißt auch: Lernräume, in denen Fragen erlaubt sind – und Scheitern dazugehört.
Erst damit beginnt Lernen wirklich zu leben.
Wir feiern die Toten und lieben das Leben.
Wir stehen am Friedhof unserer eLearnings – teils ordentlich beschriftet, teils auch nicht (mehr) ganz klar, wo was wie liegt. Aber egal, wenn der Rahmen stimmt, kommen wir auch damit zurecht. Der kanadische Philosoph und Lehrforscher Stephen Downes formulierte unlängst:
„A course should be a catalyst, not a warehouse.“
Ein Kurs darf kein Lagerhaus für Inhalte sein, kein digitales Archiv, das Wissen konserviert. Er muss ein Katalysator sein – ein Auslöser für Vernetzung, Beteiligung und Veränderung. Denn Lernen ist Vernetzung: Wissen entsteht nicht durch Konsum, sondern durch Verbindungen – zwischen Menschen, Themen, Erfahrungen. Und: Lernen ist Partizipation: Lernende sind keine Rezipient:innen, sondern Akteur:innen. Sie wählen, gestalten, remixen, interpretieren. Denn: Lernen ist Bewegung: Kein Endpunkt im LMS, sondern ein Startpunkt für Dialog, Anwendung und Weiterentwicklung.
Also, lasst uns aufhören, Inhalte zu stapeln – und anfangen, echtes Lernen zu entfachen. Lasst uns Lernräume schaffen, in denen aus Klicks Erkenntnis wird, aus Modulen Bewegung, aus Wissen Wirkung.
Vielleicht sollten wir nicht nur in Mexiko, sondern auch hier unseren „Día de los Muertos“ im Corporate Learning feiern – nicht um zu trauern, sondern um freudvoll Abschied zu nehmen: von Content-Halden, von PDF-Friedhöfen und von der Illusion, dass Bereitstellung von Wissen schon Lernen ist.




