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Können Sie sich noch erinnern an die Zeiten, in denen Bewerber:innen einfach unbeachtet blieben, als sie sich mittels liebloser Anschreiben “zu wenig bemühten”. Oder ihnen einfach abgesagt wurde, weil sie zu wenig vorbereitet waren. Machte ja nichts, Alternativen gab es ja genug.

Vielleicht kennen sie noch die Zeiten, als man Mitarbeitende, wenn sie sich nicht so recht den Organisationsvorgaben fügen wollten, hinwies:

„Da draußen warten mindestens fünf andere, die den Job gerne übernehmen würden“.

Nur, da draußen wartet heute niemand mehr. Gähnende Leere! Alle Unternehmen suchen, selbst die, die sich bislang darum wenig Sorgen machen mussten. Mitarbeitende fehlen an allen Ecken und Enden.

Doch wie und wann ist das passiert? Wo sind denn all diese Menschen nur geblieben?

Schubkraftumkehr am Arbeitsmarkt

Vielleicht geht es Unternehmen wie dem Frosch im kalten Wasser, der dessen langsame Erwärmung nicht wahrnimmt – und selbst im siedenden Wasser nicht flüchtet. Auch Recruiting reagiert kaum, obwohl seit 1997 die Rede vom „War for Talent“ ist und sich die Bevölkerungspyramide mittlerweile in einen Döner verwandelt hat. Boiling Frog Syndrom nennen Biologen das.

Dabei sind Daten zum Arbeitsmarkt ja kein Geheimnis, sondern frei zugänglich. Aktuell sind rund 4,5 Mio in Österreich erwerbstätig, davon 3,8 Mio unselbständig. Das sind nur um rd. 11% mehr als 10 Jahre davor (bei rund 13% Wirtschaftswachstum im selben Zeitraum).

Es gibt heute nicht mehr Vollzeit-Angestellte als vor 10 Jahren

Bemerkenswert ist, dass davon rd. 3,13 Mio Vollzeit beschäftigt sind – und das sind nur unwesentlich mehr wie 10 Jahre davor (3,08 Mio). Schlechte Nachricht: in den kommenden 10 Jahren werden das auch nicht wesentlich mehr. Erfreulicherweise ist die Erwerbsquote und damit auch Teilzeitbeschäftigungen (+24%) und Zweitbeschäftigungen (+35%) deutlich gestiegen, darauf werden wir – neben Migration – auch in Zukunft setzen müssen.

Als wär das nicht schon schlimm genug, so hat sich die Anzahl der offenen Stellen in der letzten Dekade von etwa jährlich 80 Tausend auf rund 150 Tausend Jobmöglichkeiten pro Jahr fast verdoppelt. Die absolute Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen (rd. 250 Tausend) ist dabei (mit den natürlichen Schwankungen) in etwa gleich geblieben.

Es gibt nicht mehr genug für alle

Reden wir Klartext, es gibt nicht mehr genug für alle. Schon heute, jedenfalls aber in der Zukunft.

Und dabei bräuchten wir viel mehr: allein in der Pflege brauchen wir zumindest rd. 5 Tausend zusätzliche Personen pro Jahr, ebenso in der Verwaltung, in der Schule, in der IT, und so fort. Derzeit fehlen rund 220.000 Arbeitskräfte in Österreich.

Abseits der fehlenden Mengen, fehlt uns belastbare Qualifizierung – oder zumindest Orientierung darin. Karrierebrüche werden die Regel, so erleben wir bspw. eine nie da gewesene Branchendurchlässigkeit: Touristiker gehen in den Handel, Handel verliert an zunehmend ans Büro, individuell ist aktuell Vieles möglich.

Auch in klassischen Karriereläufen bleibt nix fix: Wir erfinden (und suchen) laufend neue Berufsfelder, zu denen es wenig Erfahrungen und auch keine etablierten Ausbildungen gibt. Und den bekannten Berufsfeldern – wie auch im Recruiting – verändert sich so viel in so kurzer Zeit, bei denen etablierte Ausbildungen den Entwicklungen kaum Schritt halten können.

Damit stehen Unternehmen (erstmals wirklich) in einem harten Wettbewerb um Köpfe (dabei reden wir noch gar nicht von den Besten) und können sich dabei kaum an irgendwelchen Fixpunkten orientieren.

Irritation bei den Arbeitgebern

Man muss das ja verstehen. Arbeitgeber kennen das nicht – sie sind es schließlich, die die allseits so begehrten Arbeitsplätze schaff(t)en. In den USA z.B. erlebte man ab 2021 The Great Reset oder The Big Quit, bei dem es zu einem deutlichen Anstieg der arbeitnehmerseitigen Kündigungen kam. Einfach so. Auch wenn in Europa dieses Phänomen weitgehend ausblieb: Auf einmal werden Arbeitnehmer:innen zu allseits begehrten Arbeitgeber:innen.

Verkehrte Welt: Auf einmal werden Arbeitnehmer zu allseits begehrten Arbeitgebern.

Sind (junge) Leute einfach nur bequem und wollen nichts mehr arbeiten?

Nein, nur unter anderen Bedingungen. Der Arbeitskräftemangel liegt nicht an der “sozialen Hängematte” wie oft behauptet wird: Die bisherigen Arbeitgeber waren verwöhnt und müssen nun (rasch) lernen, sich um Mitarbeitende zu bemühen.

Nur rund 5-9% der Jobsuchenden tun dies, weil sie es müssen. Etwa 33-50% der Beschäftigten sind offen für anderes, wenn sie es sich verbessern. Rund ein Viertel ist loyal und treu und möchte aus Überzeugung weiterhin beim aktuellen Arbeitgeber (oder Arbeitnehmer ;-)) bleiben.

Wie heißt es so schön? Retention ist das neue Recruiting!

Schnallt Euch an, jetzt geht´s rund!

Also, liebe Unternehmen, die fetten Jahre sind vorbei.

“Die Arbeitgeber werden ordentlich tanzen müssen”,

meint auch AMS-Chef Johannes Kopf. Arbeitskräfte sind schließlich kein unendlich nachwachsender Rohstoff – und Mangelware.

Menschen erkennen ihren Wert für Unternehmen und fordern diesen (wenn auch teils übertrieben) ein. Nehmt einfach die Einleitungsworte dieses Textes und dreht sie um – das beschreibt die aktuelle Situation ganz gut: Potenzielle Kandidat:innen werden passiver und bewerben sich immer seltener (und schon gar nicht per unpersönlicher Online-Maske). Sie wollen (auch) entdeckt und angesprochen werden.

Jobs sind nicht mehr Broterwerb alleine, sie werden zum Life-Style-Produkt, das platziert und verkauft werden möchte.

Wir sollten uns daher rasch von den tradierten Recruiting-Praktiken verabschieden. Inserate wirken kaum noch (selbst wenn sie attraktiv und multimedial gestaltet sind), wir brauchen Netzwerke und Kontakte. Das geht nicht mehr einmal so nebenbei.

Das 3-Punkte-Fitness-Programm für Unternehmen

Menschen haben nun erlebbar jenen Wert für Unternehmen, den diese ihnen immer zugeschrieben haben. Sie sind das wichtigste Kapital. Andernfalls wird es schwer werden, die Leistungen in geforderten Umfang und bekannter Qualität zu erbringen.

Arbeitskräfte sind kein unendlich nachwachsender Rohstoff.

Unternehmen haben gleichzeitig drei Probleme zu lösen: das Kontakt-, das Leistungs-, und das Kompetenzproblem.

Kontakt finden

Das erste Problem des Kontakts zur relevanten Zielgruppe am Arbeitsmarkt wird vielerorts schon (mehr oder weniger professionell) bearbeitet (Employer Branding). Die Arbeitgebermarke wird definiert, bearbeitet und kommuniziert. Doch Image ist nur das Gleitmittel, denn mit leeren Botschaften ohne Inhalt steht man schnell auf der Seife.

Produkt pflegen

Die Jobs wollen auch – abseits hilfloser Inseratsorgien – geschickt positioniert und aktiv verkauft werden (Personalmarketing). Dabei muss das Produkt „Job“ mit den Bedürfnissen und Anforderungen potenzieller Kandidat:innen laufend mitwachsen – ohne dabei Organisationsanforderungen über Bord zu werfen oder gar beliebig zu werden. Dieses Leistungsproblem (in beide Richtungen) gut zu lösen, ist mitunter harte Arbeit in der Organisationsentwicklung.

Kompetenz sichern

Und schließlich werden wir uns im Recruiting an Quer-Einsteiger:innen – oder an passende Personen mit (noch) fehlender Kompetenz – gewöhnen müssen. Das verändert die Recruitingarbeit, weil es ganz andere Faktoren in der Auswahl ankommt. Hier zeigt sich das Kompetenzproblem schon in der eigenen Profession, in anderen Berufsfeldern ist dies nicht anders.

Es geht also darum, Kompetenzen schnell entwickeln zu lassen und damit Personen rasch einsatzbar zu haben. Mit den bisherigen Workshop, Trainings und eLearnings werden wir das nicht in leistbarer Weise erreichen können. Dieses Kompetenzproblem werden wir nur lösen können, wenn wir dahinter ein flexibles, wirksames und in die Arbeit integriertes Lern- und Entwicklungsinstrumentarium haben. Das gibt uns die nötige Flexibilität am Arbeitsmarkt – ohne Abstriche bei der Leistungsqualität. Gerade im Corporate Learning orte ich da noch echtes Brachland – vielleicht auch ein Beispiel für das beschrieben Kompetenzproblem?

Auf geht´s!

Wer sich da angesichts dieser Ausblicke bequem zurücklehnt, und hofft, dass es so schlimm nicht werden wird, handelt so, als würde man vor dem Roller Coaster noch gemütlich Mittagessen gehen. Das könnte übel ausgehen.

Fasten your seatbelts and enjoy your Ride!

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