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Neuro-Learning, Super-Learning und andere gescheite Namen werden fürs optimierte Lernen gefunden. Dumm nur, dass gehirngerechtes Lernen nichts mit Omas Küchenkredenz* zu tun hat.

Haben Sie noch alle Tassen im Schrank?

„Sicher!“, werden Sie antworten.

Aber woher wissen Sie das? Kennen Sie all Ihre Tassen? Wissen Sie, dass es die richtigen sind? Und woher wollen Sie eigentlich wissen, dass Ihnen tatsächlich keine fehlen?

Gut nur, dass Ihr Oberstübchen kein Küchenschrank ist, den man einfach so vollräumen und mit Tassen ergänzen kann. Doch wenn es ums „echte“ Lernen in Schule und Unternehmen geht, können wir darauf keine Rücksicht nehmen. Es gibt schließlich Lernziele und betriebliche Anforderungen.

Deshalb gibt es da draußen Lehrer, Trainer und andere „Entwickler“, die ihren Job sehr ernst nehmen: Sie wissen ziemlich genau, welche Tassen Ihnen da oben fehlen.

Und schon werden ganze Programme und Lehrpläne entworfen, damit diese fehlenden Tassen in Ihrer Kredenz* Platz finden. Aber weil das mit der Wissensvermittlung nachweislich nicht so gut funktioniert, freut man sich rasend über die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung: Neuro-Learning als Stein der Weisen! Damit klappt´s dann bestimmt auch mit der Wissensvermittlung.

Also wenn das kein Thema für Lars Richters Blogparade #hrmmythbusters ist…

Mythos No. 1 – Lernen ist ein rationaler, disziplinierter Akt.

Gottseidank ist Ihr Gehirn keine Küchenkredenz*, in die man Lerninhalte einfach einstellen kann. Leider, denn es ist viel komplizierter.

Das Gehirn verändert sich (also lernt!) laufend. Es baut sogar bestehende Strukturen laufend um. Uns selbst fällt dieses Lernen gar nicht auf. Es passiert immer, wir können gar nicht anders.

Unser Gehirn ist damit hoch anpassungsfähig – bis ins hohe Alter. Sätze wie „Ich werde das nie beHIRNen“ haben also keine neuronalen Grundlagen, sondern sind ein Fall der Selbstbeschränkung.

Schlüssel für diese Neuro-Plastizität sind allerdings nicht Lehrpläne oder harte Disziplin, sondern unsere individuellen Emotionen. Diese fungieren regelrecht als Lern-Dünger, wie Gerald Hüther dies so schön bezeichnet. Nur was uns unter die Haut geht, bleibt hängen, also lernen wir. Einfach so.

Alles andere ist Pauken, welches wir so oft mit „Lernen“ verwechseln. Also: Ohne Gefühl geht gar nichts. Neuro-Learning hilft nicht, wenn das Gefühl nicht mitmacht. Und wer etwas wirklich etwas schaffen möchte, braucht auch kein Neuro-Learning. Der lernt dies auch so – ganz unbemerkt und nebenbei.

Mythos No. 2 – Die Neurowissenschaften sind der Schlüssel zum erfolgreichen Lernen

Unbestritten, die intensive Beforschung des Gehirns seit den 1990er Jahren haben wichtige Erkenntnisse geliefert. Nicht alles davon ist neu, nicht alles ist für die Praxis anwendbar.

Nur, die Neurowissenschaften gibt es eigentlich gar nicht. An der Erforschung des Gehirns beteiligen sich viele Disziplinen: Mediziner, Biologen, Physiker, aber auch kognitive Psychologen, Philosophen und viele andere Wissenschaftler. Und alle bringen sie ihren eigenen Blick aufs Gehirn in diese Forschungen ein. Und widersprechen einander auch teilweise.

Aber alle haben eines gemeinsan: Die Erforschung neuronaler Prozesse ist nur über Umwege möglich. Niemand kann dem Gehirn bei der Arbeit zu sehen.
Die ersten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse wurden von Menschen abgeleitet, deren Gehirne durch Unfälle verletzt oder teilweise zerstört wurden. Diese Beobachtungen wurden einfach auf gesunde Gehirne übertragen, aber dort – mangels Möglichkeiten – nicht weiter überprüft.
Seit bildgebende Verfahren in der Hirnforschung Einzug gehalten haben, kann man Gehirnaktivitäten auch bei gesunden Menschen errechnen. Ja, ERRECHNEN – anhand der Blutversorgung einzelner Regionen.
Nur wer da bei der Anwendung statistischer und mathematischer Verfahren nicht Acht gibt, kann ziemlich daneben liegen. Und selbst bei toten Lachsen noch signifikante Gehirnaktivitäten nachweisen.

Also Vorsicht! Nicht alles was hip, trendy und neuronal ist, verspricht auch bessere Ergebnisse. Schon gar nicht beim Lernen.

Mythos No. 3 – Die rechte und die linke Gehirnhälfte haben unterschiedliche Aufgaben

Da ist sie wieder, die herzige Vorstellung der Küchenkredenz*: Auf der einen Seite steht das „Analytische“ auf der anderen Seite das „Kreative“. Und jeder von uns bevorzugt eine dieser Seiten. So als ob die eine Schranktür leichter aufgehen würde als die andere. Da muss wohl eine Schraube locker sein.

So einfach ist unser Gehirn nicht gestrickt. Es ist ein komplexes, intern vielfach verbundenes System, das sich nicht auf zwei Hälften reduzieren lässt. Mehr dazu kann man schön beim ime-Beitrag zu dieser Blogparade nachlesen.

Mythos No. 4 – Wir nutzen nur 10% unseres Gehirns

Diesen Mythos haben wir uns von Experimenten an Ratten eingefangen und wiederum einfach auf Menschen übertragen. Trotzdem: Ihr Gehirn könnte viel, viel mehr, als es derzeit kann. Das Potenzial des menschlichen Gehirns ist riesengroß.

Aber: Beeindruckende Fähigkeiten gehen immer auf Kosten anderer Fähigkeiten. Und damit nutzen wir – jetzt und in Zukunft – immer nur 100% Ihres Gehirns. Use it or loose it – kein biologisches System würde Kapazitäten aufrechterhalten, die es nicht braucht.

Zu behaupten, wir nutzen nur 10% unseres Gehirns ist genauso simpel wie folgende Rechnung: Das Gehirn macht nur etwa 2% der Körper-Masse aus, braucht aber rund 20% der Energie. Wenn wir nur 10% unseres Gehirns nutzen, so bräuchten wir bei Vollauslastung ja das 10fache, also 200% der Energie. Und müssten dann wohl dafür doppelt so viel Essen, um das zu schaffen.

Das Gehirn ist ein Nudelsieb – was relevant erachtet wird, wird genutzt und bleibt. Der Rest darf weiter ziehen, mit oder ohne Neuro-Learning.

Mythos No. 5 – Das Gehirn arbeitet ganz alleine

Wenn wir unseren Lernstoff nur gehirngerecht lernbar machen, so bleibt dieser im „Hirnkastl“ wohl unweigerlich hängen. So oder so ähnlich lautet das Versprechen bzw. die Hoffnung von Neuro-Learning. Wissen wir, was die Neuronen machen, wissen wir wie gelernt wird.

Natürlich braucht Lernen auf biologischer Ebene Neuronen und andere Nervenverbindungen. Doch mit dem Verständnis über das Gehirn und seine Neurone führt uns Neuro-Learning noch lang nicht zu den versprochenen Möglichkeiten, denn…

a.       Das Gehirn ist mehr als seine Neuronen und Areale

Das Gehirn ist ein Netzwerk aus mehr als 100 Milliarden einzelner Zellen mit jeweils bis zu 15.000 Schnittstellen.
Dieses Netzwerk zu betrachten und zu modellieren, ist aufwändig bzw. mit heutigen Rechenkapazitäten schier unmöglich.
Und selbst wenn – für echtes Neuro-Learning würde dies bei weitem nicht ausreichen. Im Gehirn gibt es zusätzlich jede Menge an chemischen Botenstoffen (also Neurotransmittern wie z.B. Dopamin), die einen erheblichen Einfluss auf die neuronale Informationsverarbeitung haben. Leider werden diese bei vielen Studien selten mitbetrachtet.

b.       Der Mensch ist mehr als sein Gehirn.

Zurück zu den Neuronen. Ja, die meisten davon befinden sich im Gehirn. Aber nicht nur! Viele sitzen auch im Darm („das zweite Gehirn“) oder an andere Stellen unseres Körpers.

Und diese Nerven haben ebenfalls Einfluss auf die Art und Intensität der neuronalen Informationsverarbeitung. Auch hier greift die Hirnforschung mit ihren Erkenntnissen meist zu kurz.

c.       Das Gehirn ist umfeld-sensibel!

Ob und wie wir Umweltinformationen verarbeiten, hängt stark vom aktuellen Kontext und dem zuvor Erlebten ab. Was also wie gelernt wird, hängt nicht nur vom Vorwissen, sondern vom (sozialen) Kontext ab.
Spätestens seit Entdecken der Spiegelneurone ist bekannt, dass wir unsere Umwelt auch sozial im Gehirn „nacherleben“, selbst wenn es uns nicht direkt betrifft.
Mehr noch: Wenn Menschen miteinander reden, dann gleichen sich deren Muster im Gehirn aneinander an und beeinflussen damit wiederum die individuelle neuronale Informationsverarbeitung. Und auch diesen Aspekt hat Neuro-Learning noch nicht mal am Radar.

Neurobiologie wird überschätzt.

— Gerald Hüther, Hirnforscher, Trainingaktuell 01 2011

MythBusters: Langweilen wir uns und unser Gehirn nicht!

Also machen wir es kurz: Neuro-Learning klingt vielversprechend, hilft uns letztlich nicht weiter.

Lernen ist ein biologischer Prozess. Die Verlockung ist groß, diesen Prozess zu erforschen und Lernen damit zu optimieren und auf (betriebliche) Effizienz zu trimmen.

Vergessen Sie´s! Lernen ist ein nicht-kontrollierbarer Prozess.

Also konzentrieren wir uns doch besser auf die Effektivität unserer Lern-Ermöglichungs-Angebote:

Schaffen wir Umfelder und Rahmenbedingungen in denen Lernen wahrscheinlicher wird und vertrauen darauf, dass die Lerner-Gehirne sowieso lernen.

Unser Gehirne reagieren auf Neuigkeiten, Spannung und Spaß an Besten. Sie können Alltägliches hervorragend abstrahieren (ohne dass uns dies bewusst ist). Nicht umsonst wird das Gehirn oft als „Regelextraktionsmaschine“ bezeichnet.

Alles, was wir also tun müssen, um Lernen zu provozieren, ist eines: eigene Erfahrungen schaffen und zulassen. Mit allen Sinnen, mit dem ganzen Körper und in sozialer Umgebung. Und wenn das nicht geht, tun es spannende Geschichten allemal.

So einfach ist das. Und so schwer umzusetzen. Trösten Sie sich halt mit einem Neuro-Drink

 

* wikipedia: In Österreich (aber auch Tschechien, Slowenien, Kroatien et cetera) ist eine Kredenz ein Möbelstück mit Ablagefläche und Kästchen, das ebenfalls als Anrichte verwendet wird.

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